Schriften

Tagebuch von Heinrich Steigerwald

Autor :

Heinrich Steigerwald

Herausgeber und Verleger:

Verein für die Geschichte der Stadt Bacharach und der Viertäler e. V.

Druck:

Print-Service Listl, 55411 Bingen-Büdesheim

Erschienen

2009

Seiten

32

Preis:

2,00 EUR

Inhalt

... Der vorliegende Text wurde unter der Bezeichnung "Tagebuch" von Heinrich Steigerwald nach seiner Entlassung aus der russischen Kriegsgefangenschaft verfasst und nach seinem Tod im Jahre 2009 in seinem Nachlass aufgefunden. Wir danken seiner Ehefrau Margot Steigerwald für die Erlaubnis, es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Leseprobe

8.5.1945 - Kurland

Wir haben kapituliert. Sauber ausgerichtet stehen im Raum Calrene unsere Waffen. Das war die 263. I. A. Ein kleines Häuflein; es ist kaum zu glauben. Der Russe selbst traute anfangs der kleinen Schar nicht und fragte uns oft, wo denn eigentlich die Soldaten wären, die in unserem Divisionsabschnitt gelegen hätten. Wir antworteten nur immer, hier stehen sie doch und zeigten dabei in die Runde. Darauf schüttelte er nur immer mit dem Kopf und konnte es nicht fassen, dass so wenig Leute so viel Widerstand im Kampfe zeigen konnten, und gab selbst zu, dass er seine sechs sogenannten Kurlandschlachten nur unter größten Verlusten hatte führen können.

Die Kapitulation ging sehr anständig ihren Lauf. Der Russe war sehr hilfsbereit und zuvorkommend. Er erreichte auch dadurch, unser Vertrauen zu gewinnen und schaltete somit Fluchtgedanken sofort aus. Doch es war, wie es sich auch bald herausstellte, nur Politik von ihm. Wir merkten es auch schon 3 Tage später; als wir es glaubten war es schon zu spät und wir waren sicher bewacht in gut abgeräumten Lagern untergebracht.

Nach Beendigung der Übernahme marschierten wir los, endlos die Kolonne und ungewiss das Ziel; immer nur die schlechten staubigen russischen Wege vor uns. Rechts und links dasselbe immer nur das gleiche Bild: Öde, unheimliche Tundren oder kurzbewachsene niedrige Bodenerhebungen, abwechselnd mit schmutzigen, stinkenden Bauernkaten oder grauen, aus hohlen Augen uns anstarrenden Kleinstädten. In den ersten 8 Tagen verpflegten wir uns selbst und das Essen war ausreichend. Singend marschierten wir durch die bewohnten Gebiete des russischen Landes. Die oft weinenden Frauen, an denen wir vorbeimarschierten gaben uns allerdings zu denken, ja, sie kannten unseren Weg; sie wussten, dass wir ins Grauen marschierten. Sie haben es sicher vor uns mitmachen müssen. Doch wir, harmlose, nichts ahnende Europäer, wollten es nicht glauben und legten es so aus, wie wir es früher gewohnt waren, das heißt, immer zum Guten.

Doch welche Vorwürfe machten wir uns und wie viele Kameraden bezahlten diese Gutgläubigkeit mit dem Leben. Denn die in diesem Moment bestandene, günstige Fluchtmöglichkeit hat sich für uns niemals mehr geboten. Übernachten kam nur im Freien in Frage. Auf großen Wiesen wurden wir zusammen getrieben. Kälte und Regen spielten hierbei keine Rolle. Es kam öfter vor, dass man völlig durchnässt aufwachte und dann stundenlang mit der nassen Uniform am Körper der kalten Witterung ausgeliefert war. Ja im Gegenteil, an solchen Tagen war die Bewachung viel schärfer und schaltete somit jedes Organisationstalent des Landsers aus.

Bei Hellwerden ging es dann weiter und die ersten klagten schon über Blasen an den Füßen. Sie wurden aber von den Posten nicht erhört und sie mussten trotz Eiter und Schmerzen weitermarschieren. So marschierten wir hunderte von Kilometern und da wir uns, wie ich schon erwähnte, in den ersten 8 Tagen selbst verpflegten, wurde die Verpflegung am 9. Tage von den Russen übernommen. Seit dem gab es nur noch ab und zu etwas zu essen und dabei musste man noch Glück haben, dass wenn man dran kam, überhaupt noch etwas bekam. Es wurde eben nur eine bestimmte Menge gekocht, ob diese aber ausreichte kümmerte die Russen nicht.

So verging ein Tag wie der andere, von einem Rastplatz zum anderen. Wir sahen schon aus wie die Schweine. Unsere Stimmung war schrecklich. Am meisten widerten uns die Juden an, die vom Russen geschickt in unseren Reihen mit den schönsten Versprechungen um sich warfen, und uns damals versicherten, nach 3 Monaten Quarantäne kämen wir nach Hause. Doch wie bitter wir auch hier wieder enttäuscht wurden, stellten wir auch hier leider wieder verspätet fest.

Nach etwa einem Monat wurden wir Offiziere von den Mannschaftsdienstgraden getrennt und weiter transportiert. Als wir sie Wochen später wiedersahen, hatten sie alle eine Glatze. Es sah schlimm aus. Denn wir hatten sie vorher gesehen und nun kannten wir sie kaum wieder, außerdem war uns der Anblick noch fremd.

Wir landeten dann in einem Durchgangslager in Riga (Fabriklager). Der Name sagt es schon; es war eine leerstehende Fabrik. Wir wurden in den Lagerhallen, in denen behelfsmäßige lange Pritschen aufgestellt waren, untergebracht. Die Pritschen waren 4-stöckig und so war es für die unten liegenden gar nicht angenehm ständig den Dreck von den oberen auf dem Kopf, auf dem Brot, ja überall wieder zu finden.

Trotzdem war der Russe damals noch sehr anständig zu uns und ich muss sagen, dass mir die 4 Monate in diesem Lager bestens bekommen sind. Man war durch den Fronteinsatz dieses ruhige, regelmäßige Leben nicht mehr gewöhnt und uns tat die Ruhe wohl. Ja, wir fühlten uns wie Sommerfrischler. Man las, spielte Karten, schlief oder bastelte. Wer sich schulen wollte, konnte sogar an Zirkeln aller Berufsarten und Sprachen teilnehmen. Am meisten beeindruckten uns damals die Lagerchöre. Welch ein Heimweh entrissen sie unseren Herzen, wenn abends in die lauen, sternklaren Nächte hinein die schönsten deutschen Heimatlieder erklangen. Ja, ob Sänger oder Zuhörer - alle waren dem Heimweh erlegen und unter welch quälenden Gedanken lag damals schon mancher Gefangene auf der Pritsche.

Im Mai 1949 hatte ich das Glück in eine Zimmermannsbrigade zu kommen. Dort verdiente ich dann zum ersten Mal Geld. Ich bekam auch tatsächlich nach zwei Monaten immer für den verflossenen Monat Geld ausbezahlt. Ich kann von Juli 1949 an behaupten, keinen Hunger mehr gehabt zu haben. Das hat aber auch wieder seinen Haken. Denn ohne Hungersorgen fühlt man erst wie elendig man eingesperrt ist, und das Heimweh überwältigt einen bald.

Nun begann für mich die größte Nervenprobe, die ich je in der Gefangenschaft mitgemacht habe. Das Jahr 1949 neigte sich zu Ende, der Russe spricht in jeder Lagerversammlung von unserer Heimfahrt. Dann das Gegenteil hierzu: Wieder die ständigen Verhöre durch die N. W. A. (früher G. P. U.), das Antreiben zur Arbeit, Tag und Nacht keine Ruhe. Wir arbeiten oft 22 Stunden. Kommen wir dann erschöpft ins Lager, erzählt man uns wieder, nächsten Monat fahrt ihr Heim. Erfolg: Stimmung steigt. Am nächsten Morgen erzählt man uns wieder, laut Parolen sollen wir erst Ende 1950 entlassen werden. Nun werden wieder einige versetzt; keiner weiß wohin sie kommen. In der nächsten Versammlung spricht der Russe schon von Terminen; von Mitte November das halbe Lager und Ende November der Rest. Stimmung steigt wieder, weil jeder im Stillen hofft, bei der ersten Rate zu sein. Nun kommen wieder Abstellungen in andere Lager. Erfolg: Stimmung sinkt. Nun kommen wieder 400 Mann ins Lager. Nun erzählt man wieder, dass hier in unserem Lager gesammelt würde. Andere behaupten, dass hier wieder etwas neues gebaut würde, das Ende 1952 fertig sein soll. So läuft man hin und her, hin und her, um etwas neues zu erfahren. Die Stimmung sinkt, steigt, sinkt und steigt wieder; man findet nachts keine Ruhe mehr. So geht dieses Hin und Her wochenlang.

Am 27. November 1949 soll ein Transport von der Hälfte des Lagers gehen, so wird am 11. 11. erzählt. Wir glauben schon nicht mehr. Plötzlich am 12. 11. Versammlung. Der Politkapitän liest die Namen derer vor, die tatsächlich am 27. 11. 49 fahren sollen. Es ist knapp die Hälfte des Lagers. Welch ein Jubel bei denjenigen die dabei sind, und welche Stimmung bei uns, die bleiben mussten. Ich hatte sogar noch das Pech und musste an der Herstellung des Transportes für die anderen mithelfen. Mit Musik und Gesang gingen sie los. Viele von uns weinten. Ändern konnten wir leider nichts daran, mussten uns fügen und hofften bei dem Rest dabei zu sein. Aber was kam dann. Es wurde laufend in andere Lager abgestellt, dann wieder das Lager auf 1000 Mann aufgefüllt. Dieses sind nach Gefangenenerfahrung alles Zeichen, dass mit einem Heimtransport nicht zu rechnen war. Wir waren seelisch total auf dem Hund.

In Bacharach angekommen, wurde ich dann mit Jubel und Trubel von Mutti, Tante Luise, Tante Anna und meinem Schwesterlein begrüßt. Und im Eilschritt ging es dann nach Hause. Meine innere Freude hatte gar keine Grenzen. Ich glaubte gar nicht, dass es Wirklichkeit ist, und befürchtete immer, plötzlich zu erwachen und mich, wie so oft, im Lager auf der Pritsche wieder zu finden. Dann begannen die schönsten Monate meines Lebens. Ja, es waren tatsächlich die schönsten, denn nun sah ich erst, was es heißt zu Hause zu sein, sich satt essen zu können, im Bett zu schlafen und sich samstags zu baden. Das Tanzen lernte ich dann sehr schnell und die Unterhaltung mit einem Deutsch sprechenden Mädel, meiner Margot, machte mir besonderen Spaß.

Nach 6 Wochen ausruhen ging ich dann an die Arbeit. Ich fand genug davon vor, aber was war das schon im Vergleich zu dem Zurückliegenden. Und man kann auch arbeiten wenn man satt ist und zu Hause eine Pflege um sich hat, die meinem Ermessen nach nicht besser und liebevoller sein kann. Nun sind seit meiner Ankunft hier schon wieder Monate vergangen und ich habe versucht, in kurzen Zügen, kleinste Ausschnitte einer sehr schweren Gefangenschaft zu schildern. Ich muss noch mal erwähnen, "kleinste" Ausschnitte, denn wenn ich jeden Tag der fast 5 Jahre dauernden Gefangenschaft schildern müsste, so könnte ich Bände schreiben.

Aber auch die kurzen Schilderungen lassen die Zeit erkennen, und wer etwas Ahnung von solch einem Leben hinter Stacheldraht hat, wird die Sache natürlich besser verstehen können und wissen, was diese Zeit für mich bedeutet hat.