Heimatblatt Nr. 37
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Inhaltsverzeichnis
Leseprobe
Ein rätselhafter Stein
[Autorin: Dr. Dagmar Aversano-Schreiber]
Als Michael Steinmüller und Fritz Stüber eine Mauer auf dem Gelände des ehemaligen Hauses Jeiter in der Oberstraße 3 in Bacharach - heute im Besitz der Familie Steinmüller - vom wuchernden Efeu befreit hatten, kam ein rätselhafter Stein zum Vorschein, der hier wohl schon vor längerer Zeit eingemauert worden war.1 Es handelt sich um eine Spolie, also um ein Architekturfragment, das ursprünglich an einem anderen Ort verbaut worden war. Der aus grauem, porösen Tuff gearbeitete Stein wird in seinem Zentrum von einem Relief dominiert, das einen Kopf mit geschlossenen Augen und geschlossenem Mund zeigt. Die Nase ist platt, wodurch das ohnehin schon runde Gesicht betont wird. Der Kopf scheint eine Haube zu tragen und weist an beiden Seiten herabhängende Bänder auf, die wohl Teile eines Schleiers darstellen sollen. Unter dem Kinn verlaufen drei wulstige Erhebungen, die Falten des Schleiers oder eines kragenähnlichen Kleidungsstückes andeuten. Das Relief erhebt sich über dem zu beiden Seiten bogenförmig verlaufenden Stein, der jeweils in zwei Zonen aufgeteilt ist. Ein Teil der rechten Seite fehlt. Der Kopf ist von volutenförmigen Gebilden umrahmt. Die einstmals wohl schärferen Konturen des Reliefs wirken verwaschen, was auf einen langen Aufenthalt im Freien schließen lässt. Das Stück ist grob gearbeitet und lässt an einen Bildhauer von mittlerer Qualität denken. Durch die geschlossenen Augen wirkt das Gesicht maskenhaft, dennoch bleibt der Eindruck erhalten, dass es sich hierbei um einen Frauenkopf handelt. Spuren von Bemalung konnten nicht festgestellt werden.
Viele Fragen sind zu beantworten. Was für ein Stein ist das? Wie alt ist er? Wo befand er sich ursprünglich? Warum kam er an diesen Ort?
Betrachtet man das Objekt aufmerksam wird schnell klar, dass es sich um den oberen Teil eines Portals handelte Die Pfeiler, auf denen er ruhte, sind nicht mehr erhalten und waren möglicherweise aus einem anderen Material gearbeitet. Der Kopf diente als Scheitelstein, bildete also die Mittelachse des Portals. Auf Spaziergängen durch Bacharach kann man solche Konstruktionen heute immer noch sehen. Häufig finden sich auf dem exponierten Scheitelstein das Entstehungsjahr des Hauses, Hauszeichen oder das kurpfälzische Wappen.
Das Relief des Bacharacher Steins zeigt eine sogenannte Groteske. Die Groteske ist von dem italienischen Wort grotta für Grotte abgeleitet. Die Groteske ist eine meist im Plural gebrauchte Bezeichnung für ein aus Pflanzenranken, Fruchtschnüren, Bändern, phantastischen Menschen- und Tierfiguren, Masken, Putti, Misch- und Fabelwesen bestehendes flächenfüllendes bizarres Ornament. Die Grotesken gehen auf antike römische Wandmalereien zurück, die Ende des 15. Jh. in der domus aurea in Rom entdeckt wurden. Kaiser Nero träumte davon, einen herrlichen Palast erbauen zu lassen und ließ dazu Hausbesitzer in der Altstadt Roms enteignen. Ob er den großen Brand im Jahre 64 n. Chr. selbst gelegt hat, ist nicht bewiesen. Er kam seinen Bestrebungen aber entgegen, denn nun war der Weg frei für sein Vorhaben. Innerhalb weniger Jahre entstand ein monumentaler Palast mit unzähligen Zimmern umgeben von fruchtbaren Äckern, Weinbergen, Wiesen, Wäldern und einem großen See. Das Gelände umfasste eine Fläche von 50 ha (zum Vergleich: Der Vatikan umfasst 30 ha). Die Räume waren neben luxuriösen Marmorbelägen mit phantastischen Wandmalereien ausgestattet.
Doch Nero konnte sein goldenes Haus nicht lange genießen, denn bereits im Jahr 68 n. Chr. beging er aufgrund des politischen Drucks Selbstmord. Spätere Nachfolger gaben das Gelände zum Teil der Öffentlichkeit zurück und ließen ein Amphitheater und die Titusthermen errichten. Der restliche Palast wurde unter Kaiser Trajan 104 n. Chr. durch einen Brand zerstört. Über seinen Ruinen entstanden die Trajansthermen. Kaiser Hadrian rückte die mächtige Bronzestatue des Sonnengottes mit den Gesichtszügen von Nero, die die Halle der domus aurea geziert hatte, mit Hilfe von 24 Elefanten näher an das Amphitheater heran, das seitdem als Colosseum bezeichnet wird. Im Mittelalter waren bis auf wenige Ausnahmen die gesamten Gebäudereste verschüttet. In die verschütteten Räume, die sich ursprünglich über der Erde befanden, musste man nun hineinkriechen. Um 1488 begann man sich ernsthaft für diese sogenannten Grotten zu interessieren. Zahlreiche berühmte Künstler und bekannte Persönlichkeiten ritzten über viele Jahrhunderte ihre Namen in Gewölbe und Wände ein. Der Archäologe Fritz Weege beschreibt anschaulich, wie er 1907 durch einen Mauerspalt in 3 m Höhe in die domus aurea hineinkroch und in der Dunkelheit einen Schutthügel hinunterrutschte. Fast bis zur Decke mit Schutt verfüllte, von langbeinigen Spinnen und anderem Krabbelzeug belebte finstere, stickige Räume, reihten sich labyrinthartig aneinander. Ende 1912 begannen die systematischen Ausgrabungen.